Archiv der Kategorie: Lyrik

Conrad Ferdinand Meyer: Zwei Segel


Conrad Ferdinand Meyer, 1869, gelernt Januar 2022

Zwei Segel erhellend
Die tiefblaue Bucht!
Zwei Segel sich schwellend
Zur ruhiger Flucht!

Wie eins in den Winden
Sich wölbt und bewegt,
Wird auch das Empfinden
Des anderen erregt.

Begehrt eins zu hasten,
Das andre geht schnell,
Verlangt eins zu rasten,
Ruht auch sein Gesell.

( MITI )

Erich Kästner: Sachliche Romanze


Erich Kästner, 1923, gelernt Januar 2022

Als sie einander acht Jahre kannten
(und man darf sagen: sie kannten sich gut),
kam ihre Liebe plötzlich abhanden.
Wie andern Leuten ein Stock oder Hut.

Sie waren traurig, betrugen sich heiter,
versuchten Küsse, als ob nichts sei,
und sahen sich an und wußten nicht weiter.
Da weinte sie schließlich. Und er stand dabei.

Vom Fenster aus konnte man Schiffen winken.
Er sagte, es wäre schon Viertel nach Vier
und Zeit, irgendwo Kaffee zu trinken.
Nebenan übte ein Mensch Klavier.

Sie gingen ins kleinste Cafe am Ort
und rührten in ihren Tassen.
Am Abend saßen sie immer noch dort.
Sie saßen allein, und sie sprachen kein Wort
und konnten es einfach nicht fassen.

( MITI )

Christian Morgenstern: Ein süßer Duft


Christian Morgenstern,1902, gelernt Januar 2022

Wie wundersam ist doch ein Hügel,
der sich ans Herz der Sonne legt,
indes des Winds gehaltner Flügel
des Gipfels Gräser leicht bewegt.

Mit buntem Faltertanz durchwebt sich,
von wilden Bienen singt die Luft,
und aus der warmen Erde hebt sich
ein süßer, hingegebner Duft.

( MITI )

Dieter Mucke: Unerhörte Begebenheit

Dieter Mucke,1954, gelernt Januar 2022

Ein Maler malte Menschen
Die ohne Flugzeug flogen
Und so wie wilde Schwäne
Über den Himmel zogen.

Da sagte man dem Maler
Er sei wohl nicht gescheit
Denn ohne Flugzeug fliege
Kein Mensch in Wirklichkeit.

Der Maler nahm sein Bild
Und sagte nicht ein Wort
Hielt es wie einen Drachen
Und flog im Herbstwind fort.

( MITI )

Ludwig Tieck: Andacht

Ludwig Tieck, 1797, gelernt Januar 2022

Wann das Abendroth die Haine
Mit den Abschiedsflammen küßt.
Wenn im prächt’gen Morgenscheine
Lerchenklang die Sonne grüßt,

Oh, dann werf ich Jubellieder
In’s Lobpreisen der Natur,
Echo spricht die Töne wieder,
Alles preißt den Ew’gen nur.

Mit den Quellen geht mein Grüßen,
Und das taube Herz in mir
Hat dem Gott erwachen müssen,
Der uns schirmet für und für.

Meereswogen laut erklingen,
In den Wäldern wohnt manch Schall:
Und wir sollten nicht besingen,
Da die Freude überall?

( MITI )

Gottfried Benn: Nur zwei Dinge

Gottfried Benn, 1924, gelernt Dezember 2021

Durch so viel Formen geschritten,
durch Ich und Wir und Du,
doch alles blieb erlitten
durch die ewige Frage: wozu?

Das ist eine Kinderfrage.
Dir wurde erst spät bewußt,
es gibt nur eines: ertrage
– ob Sinn, ob Sucht, ob Sage –
dein fernbestimmtes: Du mußt.

Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
was alles erblühte, verblich,
es gibt nur zwei Dinge: die Leere
und das gezeichnete Ich.

( MITI )