Archiv der Kategorie: Lyrik

Mascha Kaléko: Der Mann im Mond

Mascha Kaléko, 1929, gelernt Dezember 2021

Der Mann im Mond hängt bunte Träume,
Die seine Mondfrau spinnt aus Licht,
Allnächtlich an die Abendbäume,
Mit einem Lächeln im Gesicht.

Da gibt es gelbe, rote, grüne
Und Träume ganz in Himmelblau.
Mit Gold durchwirkte, zarte, kühne,
Für Bub und Mädel, Mann und Frau.

Auch Träume, die auf Reisen führen
In Fernen, abenteuerlich
Da hängen sie an Silberschnüren!
Und einer davon ist für dich.

( MITI )

Erich Kästner: Das Eisenbahngleichnis

Erich Kästner, 1931, gelernt November 2021

Wir sitzen alle im gleichen Zug
und reisen quer durch die Zeit.
Wir sehen hinaus. Wir sahen genug.
Wir fahren alle im gleichen Zug
und keiner weiß, wie weit.

Ein Nachbar schläft; ein andrer klagt;
ein dritter redet viel.
Stationen werden angesagt.
Der Zug, der durch die Jahre jagt,
kommt niemals an sein Ziel.

Wir packen aus, wir packen ein.
Wir finden keinen Sinn.
Wo werden wir wohl morgen sein?
Der Schaffner schaut zur Tür herein
und lächelt vor sich hin.

Auch er weiß nicht, wohin er will.
Er schweigt und geht hinaus.
Da heult die Zugsirene schrill!
Der Zug fährt langsam und hält still.
Die Toten steigen aus.

Ein Kind steigt aus, die Mutter schreit
Die Toten stehen stumm
am Bahnsteig der Vergangenheit.
Der Zug fährt weiter, er jagt durch die Zeit,
und keiner weiß, warum.

Die erste Klasse ist fast leer.
Ein feister Herr sitzt stolz
im roten Plüsch und atmet schwer.
Er ist allein und spürt das sehr
Die Mehrheit sitzt auf Holz

Wir reisen alle im gleichen Zug
zur Gegenwart in spe.
Wir sehen hinaus. Wir sahen genug.
Wir sitzen alle im gleichen Zug
und viele im falschen Coupé.

( MITI )

Marie von Ebner-Eschenbach: Ein kleines Lied

Marie von Ebner-Eschenbach, 1864, Ein kleines Lied

Ein kleines Lied, wie geht’s nur an,
daß man so lieb es haben kann,
was liegt darin? erzähle!

Es liegt darin ein wenig Klang,
ein wenig Wohllaut und Gesang
und eine ganze Seele.

( MITI )

Eugen Roth: Blinder Zorn

Eugen Roth, 1935, gelernt November 2021

Ein Mensch, verführt von blindem Zorn,
Bläst in das nächste beste Horn,
Nun merkt er, nach dem ersten Rasen,
Dass er ins falsche Horn geblasen,

Zu spät! Der unerwünschte Ton
Ist laut in alle Welt entflohn.
Wenn schon Moral, dann wär es diese:
Dass man am besten garnicht bliese.

( MITI )

Hermann Hesse: Eine Geige in den Gärten

Hermann Hesse, 1941, gelernt Novemeber 2021

Weit aus allen dunklen Talen
Kommt der süße Amselschlag
Und mein Herz in stummen Qualen
Lauscht und zittert bis zum Tag

Lange, mondbeglänzte Stunden
Liegt mein Sehnen auf der Wacht
Leidet an geheimen Wunden
Und verblutet in die Nacht

Eine Geige in den Gärten
Klagt herauf mit weichem Strich
Und ein tiefes Müdewerden
kommt erlösend über mich

Fremder Saitenspieler drunten
Der so weich und dunkel klagt
Wo hast du das Lied gefunden
Das mein ganzes Sehnen sagt?

( MITI )

Erich Fried: Kinder und Linke

Erich Fried, 1953, gelernt November 2021

Wer Kindern sagt
Ihr habt rechts zu denken
der ist ein Rechter
Wer Kindern sagt
Ihr habt links zu denken
der ist ein Rechter

Wer Kindern sagt
Ihr habt gar nichts zu denken
der ist ein Rechter
Wer Kindern sagt
Es ist ganz gleich was ihr denkt
der ist ein Rechter

Wer Kindern sagt
was er selbst denkt
und ihnen auch sagt
dass daran etwas falsch sein könnte
der ist vielleicht
ein Linker

( MITI )