Archiv der Kategorie: Lyrik

Joseph von Eichendorff: Mondnacht

Joseph von Eichendorff, 1837, gelernt Mai 2021

Es war, als hätt’ der Himmel
Die Erde still geküßt,
Daß sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müßt‘.

Die Luft ging durch die Felder,
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis’ die Wälder,
So sternklar war die Nacht.

Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.

( MITI )

Anne-Marie Zuther: Die Wichtigtuer

Anne-Marie Zuther, 2008, gelernt Mai 2021

Auf einem kleinen Bauernhof
gab’s bei den Tieren neulich Zoff.
Man diskutierte hin und her,
wer hier denn wohl der Größte wär.

Als erster sprach der Schäferhund:
„Ich sorge vierundzwanzig Stund’
für unser aller Sicherheit,
das ist von größter Wichtigkeit!“

Das Huhn erklärte frisch und frei:
„Der Bauer schätzt das Frühstücksei,
das ich ihm lege Tag für Tag,
er dieses über alles mag!“

„Von mir“, sprach’s Schwein, „kommt’s Kotelett,
schön rosig, aber nicht zu fett.
Dem Bauern ist die Köstlichkeit
der Höhepunkt zur Mittagszeit!“

„Das ist doch Unsinn“, rief das Rind.
„Die Steaks klar überlegen sind.
Das ist so auf der ganzen Welt,
drum kosten sie auch so viel Geld!“

Das Schaf rief aus: „Ich liefer’ Wolle,
das ist fürwahr die Schlüsselrolle!
Erfrieren würd’ man ohne mich,
ja, dieser Fakt spricht wohl für sich!“

Ihr Näschen rümpfend strich vorbei
die Katze. „Was für ein Geschrei.
Ihr glaubt, dass ihr so wichtig seid?
Das ist doch pure Eitelkeit!

Seht mich an! Ich bring’ nichts zuwege,
betreib’ nur emsig Körperpflege.
Vom Nichtstun halte ich sehr viel,
fang’ mir ‚ne Maus, nur wenn ich’s will,
bin stets zum Bauern lieb und nett,
drum darf ich auch zu ihm in’s Bett!“

( MITI )

Joachim Ringelnatz: Ein Nagel

von Joachim Ringelnatz, 1910, gelernt Mai 2021

Ein Nagel saß in einem Stück Holz.
Der war auf seine Gattin sehr stolz.
Die trug eine goldene Haube
Und war eine Messingschraube.

Sie war etwas locker und etwas verschraubt,
Sowohl in der Liebe, als auch überhaupt.
Sie liebte ein Häkchen und traf sich mit ihm
In einem Astloch. Sie wurden intim.

Kurz, eines Tages entfernten sie sich
Und ließen den armen Nagel im Stich.
Der arme Nagel bog sich vor Schmerz.
Noch niemals hatte sein eisernes Herz
So bittere Leiden gekostet.
Bald war er beinah verrostet.

Da aber kehrte sein früheres Glück,
Die alte Schraube, wieder zurück.
Sie glänzte übers ganze Gesicht.
Ja, alte Liebe, die rostet nicht!

( MITI )

Rainer Maria Rilke: Das Leben

Rainer Maria Rilke. 1906, gelernt April 2021

Du musst das Leben nicht verstehen,
dann wird es werden wie ein Fest.
Und lass dir jeden Tag geschehen
so wie ein Kind im Weitergehen von jedem Wehen
sich viele Blüten schenken lässt.

Sie aufzusammeln und zu sparen,
das kommt dem Kind nicht in den Sinn.
Es löst sie leise aus den Haaren,
drin sie so gern gefangen waren,
und hält den lieben jungen Jahren
nach neuen seine Hände hin.

( MITI )

Herman Van Veen – Ich hab‘ ein zärtliches Gefühl

Herman Van Veen, 1973, gelernt April 2021

Ich hab‘ ein zärtliches Gefühl
für jeden Nichtsnutz, jeden Kerl
der frei umherzieht ohne Ziel
der niemands Knechts ist, niemands Herr

Ich hab‘ ein zärtliches Gefühl
für den, der seinen Mund auftut
der Gesten gegenüber kühl
und brüllt, wenn’s ihm danach zumut‘

Ich hab‘ ein zärtliches Gefühl
für den, der sich zu träumen traut
der, wenn sein Traum die Wahrheit trifft
noch lachen kann – wenn auch zu laut

Ich hab‘ ein zärtliches Gefühl
für jede Frau, für jeden Mann
für jeden Menschen, wenn er nur
vollkommen wehrlos lieben kann

( MITI )

Wilhelm Busch: Die Selbstkritik

Wilhelm Busch, 1864, gelernt April 2021

Die Selbstkritik hat viel für sich.
Gesetzt den Fall, ich tadle mich:
So hab ich erstens den Gewinn,
Dass ich so hübsch bescheiden bin;

Zum zweiten denken sich die Leut,
Der Mann ist lauter Redlichkeit;
Auch schnapp ich drittens diesen Bissen
Vorweg den andern Kritiküssen;

Und viertens hoff ich außerdem
Auf Widerspruch, der mir genehm.
So kommt es denn zuletzt heraus,
Dass ich ein ganz famoses Haus.

( MITI )